documenta X

Plakat mit hellgrauem Hintergrund und übergroßen, übereinanderliegenden Buchstaben „d“ in Schwarz und „X“ in leuchtendem Rot. Rechts am Rand steht vertikal der Text „documenta X Kassel 21. Juni bis 28. September 1997“. Am unteren Rand befinden sich Logos und Namen der Hauptsponsoren.
Ausstellungsplakat documenta 10 (1997)

Künstlerische Leitung

Catherine David

Orte

Parcours: Kulturbahnhof / Balikino, Unterführung Kulturbahnhof, Unterführung Treppenstraße, Treppenstraße, Friedrichsplatz, Museum Fridericianum, Ottoneum, documenta-Halle, Orangerie, Karlsaue

Künstler*innen

138

Besuchende

628.776

Budget

21.732.293 DM

Die letzte documenta des 20. Jahrhunderts wurde erstmals von einer Frau geleitet, der Französin Catherine David. In Kassel war man wie so oft skeptisch. Der intellektuelle Anspruch, den Catherine David an die Großausstellung stellte – deren Sinn und Zweck sie in der Einleitung zum Katalog befragte –, und die von ihr geforderte kritische Auseinandersetzung mit den politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Problemen der globalisierten Gegenwart ließen viele Kritiker im Vorfeld um die Autonomie der Kunst fürchten. Bereits das Plakat, auf dem das kleine „d“ von einem großen „X“ (röm. 10) durchkreuzt wird, löste Entrüstung aus – vermutete man darin doch gar eine Infragestellung der Institution documenta. Im Nachhinein ist es erstaunlich, wie wenig die Rezeption der documenta 10 ihrem Konzept als einer „manifestation culturelle“ mit dem Anspruch, „den Zugang zum Erkennen des Zustands der Welt auf unterschiedliche Art und Weise zu ermöglichen“ – und dies explizit jenseits einer „Gesellschaft des Spektakels“ –, gerecht wurde.

Ohne dabei in die Falle der „Jubiläumsausstellung“ zu tappen, stellte sich die documenta 10 vielfältigen Herausforderungen und Diskursen – von der Postkolonialismus-Debatte (etwa mit Lothar Baumgartens Serie Vakuum, 1978–80, oder den documenta documents) über verschiedene Urbanitätsmodelle (Aldo van Eyck, Archigram, Archizoom Associati, Rem Koolhaas) und Positionen zur Bedeutung des Bildes in der Mediengesellschaft (hier exemplarisch Marcel Broodthaers’ Séction Publicité du Musée d’Art Moderne, Département des Aigles (1968)) bis hin zur aktuellen Netzkunst (Heath Bunting, Joachim Blank/Karl Heinz Jeron).

Anstelle einer wirklichen Auseinandersetzung mit diesen Fragestellungen oder Davids kuratorischer Leistung lief der allgemeine Tenor der Kunstkritik zur documenta 10 jedoch immer wieder auf Begriffe wie „Theorielastigkeit“ oder „Intellektualismus“ sowie die angeblich „fehlende Sinnlichkeit“ der Ausstellung hinaus. Der Vorwurf der „Unsinnlichkeit“ richtete sich vielleicht aber auch gegen Kassel selbst – immerhin thematisierte David in ihrem documenta-Parcours die Stadt Kassel, einst die autofreundlichste und damit „modernste“ Stadt Deutschlands, als „moderne Ruine“. Dazu passte das wuchernde Unkraut – Neophyten aus Süd- und Südosteuropa –, das Lois Weinberger als Metapher für Migrationsprozesse entlang einem stillgelegten Gleis des Kasseler Hauptbahnhofs pflanzte, der seit Fertigstellung des IC-Bahnhofs Kassel-Wilhelmshöhe nur noch Regionalbahnhof ist und für kommerzielle und kulturelle Zwecke zum „Kulturbahnhof“ umfunktioniert wurde. Der Parcours führte von dort durch Unterführungen und über die Treppenstraße hinunter zum Fridericianum und an der documenta-Halle und der Orangerie vorbei bis zur Fulda. Entlang dieser Achse sollten die verschiedenen sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen, ästhetischen und kulturellen Systeme, die hier aufeinandertrafen, untersucht werden.

Die installierten künstlerischen Arbeiten sollten keine Event-orientierte „Stadtmöblierung“ mit Kunstwerken sein, sondern mit spezifischen Fragen subtil in den öffentlichen Raum eingreifen. Jeff Walls Milk (1984), eine Lightbox mit dem Foto eines am Straßenrand vor einer Backsteinmauer sitzenden Mannes mit einer braunen Papiertüte in der Hand, aus der eine Milchfontäne spritzt – eine auf den ersten Blick banale, auf den zweiten surreale Szene –, war in einer Fußgängerunterführung installiert. In einer anderen Unterführung richtete Christine Hill ihre Volksboutique (1996–heute) ein, während Suzanne Lafonts Plakate in Bahnhofsnähe lakonisch die Route der Wanderungsbewegungen zwischen den Metropolen Südost- und Mitteleuropas nachzeichneten. Der Parcours endete nahe der Fulda mit der Metro-Net Skulptur: Transportabler U-Bahn-Eingang (1997) des kurz zuvor verstorbenen Martin Kippenberger. Der Zugang zur suggerierten Mobilität war jedoch eine Attrappe – ein Sinnbild dysfunktionaler urbaner Netzwerke. Unweit hiervon befand sich das vielleicht populärste Kunstwerk der documenta 10: Carsten Höllers und Rosemarie Trockels Ein Haus für Schweine und Menschen (1997) nahe der Orangerie. Die vermeintliche Interspezies-Idylle verband subtil-verstörend Evolutionstheorie mit der grausamen Realität gewinnorientierter Massentierhaltung.

Am Bahnhof wachsen Pflanzen über die Schienen. Viele Menschen stehen am Bahnsteig.
Lois Weinberger, Das über die Planzen/ist eins mit Ihnen (1990-97). Foto: Bernhard Rüffert
Auf einer Wiese steht ein Schwein, ein anderes liegt auf dem Bauch. Um das liegende Schwein versammeln sich mehrere Ferkel.
Carsten Höller und Rosemarie Trockel, Ein Haus für Schweine und Menschen (1997). Foto: Bernhard Rüffert © documenta Archiv
Die documenta Halle bei Nacht. Auf dem Dach über dem Eingang steht in großen roten Leuchtbuchstaben "Kino".
Peter Friedl, Kino (1997). Foto: Werner Maschmann © documenta Archiv

Zur Verortung der documenta am Ende des Jahrhunderts hatte David außerdem eine Reihe von „Retroperspektiven“ konzipiert, die einerseits wichtige Tendenzen der Nachkriegsvergangenheit im Sinne eines „postarchaischen, posttraditionellen und postnationalen“ Gedächtnisses und Identifikationsbemühens sichtbar machten (Marcel Broodthaers, Aldo van Eyck, Öyvind Fahlström, Richard Hamilton, Gordon Matta-Clark, Michelangelo Pistoletto sowie Gerhard Richter mit Atlas (1962–96)) und andererseits Versäumnisse der westlichen Kunstgeschichtsschreibung offenlegen sollten (etwa mit der Präsentation von Arbeiten Hélio Oiticicas und Lygia Clarks als Vertretern der brasilianischen Moderne). Mit den „Retroperspektiven“ knüpfte die documenta 10 wieder an den Gründungsgedanken der documenta an. 

Zur „manifestation culturelle“ gehörte neben dem Filmprogramm und der Publikation der documenta documents vor allem die Reihe 100 Tage – 100 Gäste, zu der David in der 1992 als Multifunktionsort errichteten und nun von Franz West bestuhlten documenta-Halle täglich ab 19 Uhr Gesprächspartner aus allen Gegenden der globalisierten Welt zu Diskussionen über verschiedene Themen empfing: angefangen von Edward Said über Rem Koolhaas („Neuer Urbanismus“), Okwui Enwezor – der Davids Nachfolger werden sollte – („Biennalen“), Matthew Ngui, Suely Rolnik und anderen bis hin zu Wole Soyinka („Kunst und der ethnozentrische Blick“). Über dem Eingang zur documenta-Halle hatte Peter Friedl in ironischer Anlehnung an die Beschriftung des benachbarten Staatstheaters in großen roten Lettern den Schriftzug KINO angebracht – ein Versprechen, das seine Missdeutung bewusst einkalkulierte.

Künstler*innen

a

  • Adams, Robert
  • Althamer, Paweł
  • Archigram
  • Archizoom Associati
  • Art & Language Institute
  • Aya & Gal Middle East

b

  • Bamgboyé, Oladéle Ajiboyé
  • Baumgarten, Lothar
  • Beaugrand, Catherine
  • Beckett, Samuel
  • Blank & Jeron
  • Broodthaers, Marcel
  • Bunting, Heath
  • Burnett, Charles
  • Bustamante, Jean-Marc

c

  • Cabelo
  • Clark, Lygia
  • Coleman, James
  • Collective
  • Craig, Stephen
  • Crandall, Jordan

d

  • Del Giudice, Daniele
  • Douglas, Stan

e

  • Elsken, Ed van der
  • Esposito, Bruna
  • Evans, Walker
  • Eyck, Aldo van

f

  • Fahlström, Oyvind
  • Faigenbaum, Patrick
  • Farocki, Harun
  • Feng Mengbo
  • Fischli & Weiss
  • Friedl, Peter
  • Friese, Holger

g

  • Gillick, Liam
  • Gob Squad & Stefan Pucher
  • Godard, Jean-Luc
  • Goebbels, Heiner
  • Golz, Dorothee
  • Graham, Dan
  • Grand, Toni
  • Graumann, Hervé
  • Grimonprez, Johan
  • Grimonprez, Johan & Herman Asselberghs
  • Grossarth, Ulrike

h

  • Haacke, Hans
  • Hains, Raymond
  • Hamilton, Richard
  • Hamilton, Richard & Ecke Bonk
  • Hapaska, Siobhán
  • Hausswolff, Carl Michael von
  • Heiman, Michal
  • Herold, Jörg
  • Hill, Christine
  • Hohenbüchler, Christine & Irene
  • Honetschläger, Edgar
  • Huber, Felix S. & Philip Pocock & Florian Wenz & Udo Noll
  • Hybrid WorkSpace
  • Höller, Carsten & Trockel, Rosemarie

j

  • Jackson Pollock Bar
  • Jodi

k

  • Kelley, Mike & Tony Oursler
  • Kelley, Mike & Tony Oursler & Diedrich Diederichsen
  • Kentridge, William
  • Kippenberger, Martin
  • Koester, Joachim
  • Kogler, Peter
  • Konrad, Aglaia
  • Koolhaas, Rem
  • Kroesinger, Hans-Werner

l

  • Lafont, Suzanne
  • Landau, Sigalit
  • Lassnig, Maria
  • Lauwers, Jan
  • Legrand, Jozef
  • Lerch, Antonia
  • Levitt, Helen
  • Lovink, Geert

m

  • Marker, Chris
  • Marshall, Kerry James
  • Marthaler, Christoph & Anna Viebrock
  • Matta-Clark, Gordon
  • McQueen, Steve
  • Milev, Yana
  • Mosler, Mariella
  • Moulène, Jean-Luc
  • Mucha, Reinhard
  • Mullican, Matt
  • Muntadas, Antonio
  • Müller, Christian Philipp

n

  • Ngui, Matthew
  • Nicolai, Carsten
  • Nicolai, Olaf
  • Nordey, Stanislas

o

  • Oiticica, Hélio
  • Orozco, Gabriel

p

  • Page, Adam
  • Pataut, Marc
  • Peck, Raoul
  • Peljhan, Marko
  • Pistoletto, Michelangelo
  • Pittman, Lari
  • Prini, Emilio

r

  • Radio Mentale
  • Reeb, David
  • Richter, Gerhard
  • Roberts, Liisa

s

  • Schlingensief, Christoph
  • Schneider, Anne-Marie
  • Schoellkopf, Jean-Louis
  • Schütte, Thomas
  • Simon, Michael
  • Sissako, Abderrahmane
  • Smithson, Alison & Peter with Nigel Henderson
  • Sokurov, Aleksandr
  • Spero, Nancy
  • Steinbrecher, Erik
  • Stuart, Meg & Gary Hill
  • Suleiman, Elia
  • Syberberg, Hans-Jürgen

t

  • Tolj, Slaven
  • Tunga
  • Tzaig, Uri

v

  • Vallet Kleiner, Danielle
  • Vito Acconci Studio

w

  • Walde, Martin
  • Wall, Jeff
  • Wang, Jian Wei
  • Warmerdam, Marijke van
  • Weinberger, Lois
  • West, Franz
  • Winogrand, Garry
  • Wohlgemuth, Eva & Andreas Baumann

y

  • Yassour, Penny Hes

z

  • Zaremba, Lilian
  • Zittel, Andrea
  • Zobernig, Heimo

Künstlerische Leiterin

Catherine David
geboren 1954 in Paris

  • Studium der Kunstgeschichte, der Sprachwissenschaften und der portugiesischen und spanischen Literatur, Universität Paris

  • 1981–1990
    Kuratorin Musée d’ArtModerne, Centre Georges Pompidou, Paris

  • 1990–1994
    Kuratorin an der Nationalgalerie der Jeu de Paume, Paris

  • 1994–1997
    Künstlerische Leiterin der documenta 10, Kassel

  • seit 1998
    Projektleiterin „Représentations Arabes Contemporaines“

  • 2002–2004
    Direktorin des Witte de With, Rotterdam

  • 2006
    Fellow der Kulturstiftung des Bundes am Wissenschaftskolleg zu Berlin

  • 2009
    Künstlerische Leiterin des Pavillons der Vereinigten Arabischen Emirate, Biennale von Venedig, Venedig

  • seit 2014
    Stellvertretende Direktorin des Musée d’Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris

Ausstellungen (Auswahl)

  • 1997
    documenta 10, Kassel

  • 2005–2006
    Contemporary Arab Representations. The Iraqi Equation, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona, Kunst-Werke, Berlin

  • 2007
    DI/VISIONS. Kultur und Politik im Nahen Osten, Haus der Kulturen der Welt, Berlin

  • 2009
    Bahman Jalali, Fundació Antoni Tàpies, Barcelona

  • 2009
    Kuratorin des Pavillons der Vereinigten Arabischen Emirate, Biennale von Venedig, Venedig

Auszeichnungen (Auswahl)

  • 2015
    Hessischer Kulturpreis für die Tätigkeit als Künstlerische Leiterin der documenta 10

Ein Portrait von der Künstlerischen Leiterin der documenta 10.
Catherine David (1997). Foto: Gitty Darugar