4. documenta

Plakat zur documenta 4 von 1968 mit einer großflächigen roten „4“ im oberen und einer blauen, spiegelverkehrten „a“ im unteren Bereich auf weißem Hintergrund. Rechts davon mehrsprachiger Text zur Ausstellung: „4. documenta Kassel ’68“, darunter Angaben zu Datum, Ort und Inhalten der internationalen Ausstellung in Deutsch, Englisch und Französisch.
Ausstellungsplakat documenta 4 (1968)

Internationale Ausstellung

Künstlerische Leitung

Arnold Bode

Orte

Museum Fridericianum, Orangerie, Karlsaue, Galerie an der Schönen Aussicht

Künstler*innen

150

Besuchende

207.000

Budget

2,817,000 DM

Die letzte hauptsächlich von Arnold Bode verantwortete documenta stand unter dem etwas angestrengt jugendlich anmutenden Slogan „Die jüngste documenta, die es je gab“. Ein deutlich verjüngter documenta Rat (darunter maßgeblich Jean Leering vom Van Abbemuseum) sollte 1968 die „Internationale Ausstellung“ in Kassel näher an den Puls der Zeit heranführen. Nicht mehr dabei war Werner Haftmann als einer ihrer „Väter“, mit ihm ging Will Grohmann, später traten auch Werner Schmalenbach und Fritz Winter aus.

Nach der retrospektiven Ausrichtung der documenta 1955 und dem Anknüpfen an das internationale Kunstgeschehen vier Jahre später schien spätestens seit der dritten Ausgabe eine grundsätzliche Standortbestimmung überfällig. Nach einigen Querelen im Innern sollte nun ein zuletzt 26-köpfiges Team basisdemokratisch über die Künstler*innenauswahl entscheiden – erstmals nicht aus einer gesicherten historischen Distanz heraus, mit der auch eine latent autoritäre kunsthistorische Wertung einhergegangen wäre, sondern konsequent dem aktuell Gegenwärtigen verpflichtet, also den vier Jahren seit der letzten documenta.
Viele Kunstwerke entstanden erst kurz vor Eröffnung der Ausstellung oder wurden sogar speziell für sie produziert – ein Trend, der sich fortsetzen sollte. Nun, 1968, hielt etwas verspätet die Pop Art im großen Stil in Kassel Einzug, ebenso wie Color Field Painting, Post-Painterly Abstraction, Op Art und Minimal Art.

Imposant über zwei Stockwerke im Treppenhaus der Rotunde inszeniert, ging James Rosenquists Fire Slide (1967) in das Bildgedächtnis der documenta 4 ein. Den Slogan „Seize matters“ bestätigten schon im Titel auch Roy Lichtensteins Big Modern Painting (1967), Tom Wesselmanns Great American Nude No. 98 (1968) und Robert Indianas The Great Love (1966) im Hauptsaal des Fridericianums sowie Claes Oldenburgs Giant Poolballs (1967) in der Galerie an der Schönen Aussicht. Aber auch Robert Morris’ L-Shapes (1967), Sol LeWitts raumfüllende 47 Three-Part Variations on Three Different Kinds of Cubes (1968), sowie die Gemälde von Barnett Newman (Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue II (1967)) oder Morris Louis beeindruckten mit imposanten Formaten.

Eine meterhohe, runde Skulptur steht auf der Grünfläche an der Orangerie
Christo, 5450 m cubic package (1967/68) Foto: Stadt- und Kreisbildstelle Kassel

Insgesamt bestimmte die Kunst aus den USA mit 51 Künstlern ungefähr ein Drittel der gesamten Ausstellung, was der documenta 4 den Beinamen „Americana“ eintrug. 1968, im Jahr der Student*innenproteste und Anti-Vietnam-Demonstrationen, löste dies heftige Gegenreaktionen aus – wenngleich die Demonstrationen in Kassel verglichen mit denen auf der Biennale in Venedig desselben Jahres vergleichsweise harmlos ausfielen: Studierende mit roten Fahnen störten die Eröffnungsreden auf dem Friedrichsplatz, und die Pressekonferenz am Vormittag desselben Tages wurde von einer Künstler*innengruppe um Wolf Vostell und Jörg Immendorff erfolgreich in ein Happening verwandelt.

Unter anderem protestierten die Aktivisten damit gegen das völlige Fehlen der aktuellen Tendenzen von Fluxus, Happening und Performance in der offiziellen Ausstellung. In der Tat sind die Versäumnisse der documenta 4, was die deutsche Kunstszene betrifft, im Vergleich zu denen in Bezug auf die USA eklatant – hier vermisste man zwar die Concept Art sowie die Performance, doch waren im Bereich der Malerei und Skulptur sowie mit Environments von Ed Kienholz, Robert Rauschenberg und George Segal die wichtigen Vertreter und Strömungen präsent.

Joseph Beuys war mit einer Rauminstallation vertreten, doch ansonsten erwies sich die Auswahl der deutschen Künstler*innen mit etwa Horst Antes, Joseph Albers, Erwin Heerich oder Richard Paul Lohse als wenig innovativ – für die sechziger Jahre wichtige Künstler*innen wie Thomas Beyerle, Sigmar Polke, Gerhard Richter, Imi Knoebel oder Reiner Ruthenbeck fehlten, ganz zu schweigen von Fluxus und Happening. Auch in Bezug auf die Präsenz von Positionen von Künstlerinnen schnitt die vierte documenta unterdurchschnittlich ab: Mit Jo Baer, Marisol, Louise Nevelson und Bridget Riley befanden sich gerade einmal vier Frauen unter den 150 Künstlern. 

Im Außenraum wagte sich die documenta mit Skulpturen zum ersten Mal hinaus auf die Karlswiese, die weitläufig bespielt wurde – vornehmlich mit eher traditionellen, semi-abstrakten Skulpturen. Besonders eindrücklich blieb hier Christos (Jeanne-Claude wurde damals noch nicht als Mitautorin genannt) spektakuläres Luftkissen 5600 Cubicmeter Package (1968) in Erinnerung, das immerhin den Ansatz eines neues Skulpturbegriffs einführte. Nach mehreren gescheiterten Versuchen bewies der zu guter Letzt mit Helium gefüllte Schlauch schließlich doch noch Stehvermögen und erhob sich stolze 58 Meter phallisch in die Höhe (was ihm unter der Kasseler Bevölkerung diverse naheliegende Spitznamen eintrug). 

Ein Novum mit gesellschaftspolitischem Anspruch war die Besucherschule von Bazon Brock, in der er mit seiner Technik des „Action Teaching“ die sich verändernden Realitätsbezüge in der zeitgenössischen Kunst einem breiten Publikum verständlich machen wollte. Mit seinem performativ-didaktischen Akt der Kunstvermittlung prägte Brock nachhaltig den Vermittlungsanspruch der folgenden documenta Ausstellungen.

Zwei Personen stehen vor einer Wand. An der Wand hängen mehrere Kunstwerke. Von oben sehen Menschen in den Raum hinein.
Museum Fridericianum: Tom Wesselmann, Great American Nude No. 98 (1968), Mouth No. 15 (1968) © Tom Wesselmann/VG Bild-Kunst; Richard Smith, Second Time Around 1-5 (1967); Roy Lichtenstein, Yellow Brushstroke II (1965), © Roy Lichtenstein/VG Bild-Kunst; Escobar Marisol, The Dealers (1965/66), Couple (1965/66); Robert Indiana, The Great Love (1966), © Robert Indiana/VG Bild-Kunst; Larry Poons, One Credit (1967), © Larry Poons/VG Bild-Kunst; Foto: Hans-Kurt Boehlke
Wand mit Text. Links steht eine Person und sprüht mit einer Farbdose einen Pfeil an die Wand.
Bazon Brock, Besucherschule (1968) Foto: Hans Puttnies
Skulpturen stehen eng nebeneinander formiert im Raum. An der Wand hängen farbige Bilder.
Museum Fridericianum: Sol Lewitt, 47 Three-Part Variations on Three Different Kind of Cubes (1968) © Sol LeWitt/VG Bild-Kunst; Kenneth Noland, Open End (1967), Date Line (1967) © Kenneth Noland/VG Bild-Kunst; Barnett Newman, Voice of Fire (1967) © Barnett Newman/VG Bild-Kunst

Künstler*innen

a

  • Albers, Josef
  • Alviani, Getulio
  • Andre, Carl
  • Antes, Horst
  • Anuszkiewicz, Richard
  • Arakawa, Shusaku
  • Arman
  • Artschwager, Richard

b

  • Baer, Jo
  • Baldaccini, César
  • Bell, Larry Stuart
  • Berns, Ben
  • Beuys, Joseph
  • Bladen, Ronald
  • Brüning, Peter
  • Bury, Pol

c

  • Calderara, Antonio
  • Camargo, Sergio de
  • Caro, Anthony
  • Castellani, Enrico
  • Castillo, Jorge
  • Chillida, Eduardo
  • Christo
  • Chryssa, Varden M.
  • Colombo, Gianni
  • Cornell, Joseph

d

  • Davis, Ron
  • Dekkers, Ad
  • Demarco, Hugo
  • De Maria, Walter
  • Diller, Burgoyne
  • Dine, Jim
  • Di Suvero, Mark
  • Dobes, Milan
  • Dubuffet, Jean

e

  • Engels, Pieter
  • Ernest, John

f

  • Fahlström, Oyvind
  • Flavin, Dan
  • Fontana, Lucio
  • Fruhtrunk, Günter

g

  • Geiger, Rupprecht
  • Geldmacher, Klaus & Mariotti, Francesco
  • Gerstner, Karl
  • Gnoli, Domenico
  • Goeschl, Roland
  • Golden, Daan van
  • Graevenitz, Gerhard von
  • Graubner, Gotthard

h

  • Hains, Raymond
  • Hamilton, Richard
  • Hauser, Erich
  • Heerich, Erwin
  • Held, Al
  • Higgins, Edward
  • Hill, Anthony
  • Hockney, David
  • Hoyland, John

i

  • Indiana, Robert
  • Irwin, Robert

j

  • Jacquet, Alain George Frank
  • Jensen, Al
  • Johns, Jasper
  • Jones, Allen
  • Judd, Donald

k

  • Kadishman, Menashe
  • Kampmann, Utz
  • Kelly, Ellsworth
  • Kienholz, Edward
  • King, Phillip
  • Kitaj, R. B.
  • Klapheck, Konrad
  • Klein, Yves
  • Kolář, Jiří
  • Kosice, Gyula
  • Krushenick, Nicholas

l

  • Le Parc, Julio
  • LeWitt, Sol
  • Lichtenstein, Roy
  • Lindner, Richard
  • Lohse, Richard Paul
  • Lo Savio, Francesco
  • Louis, Morris

m

  • Malaval, Robert
  • Manders, Jos
  • Manzoni, Piero
  • Mari, Enzo
  • Marisol (Escobar, Marisol)
  • Martin, Kenneth
  • Mavignier, Almir
  • Megert, Christian
  • Morellet, François
  • Morris, Robert
  • Munari, Bruno

n

  • Nauman, Bruce
  • Negret, Edgar
  • Nevelson, Louise
  • Newman, Barnett
  • Noland, Kenneth
  • Nusberg, Lev

o

  • Oldenburg, Claes
  • Olitski, Jules

p

  • Paolozzi, Eduardo
  • Pichler, Walter
  • Pistoletto, Michelangelo
  • Poons, Larry

r

  • Raetz, Markus
  • Ramon
  • Rauschenberg, Robert
  • Raveel, Roger
  • Raysse, Martial
  • Reichert, Josua
  • Reinhardt, Ad
  • Rickey, George
  • Riley, Bridget
  • Rivers, Larry
  • Rosenquist, James
  • Roth, Dieter

s

  • Samaras, Lucas
  • Sandle, Michael
  • Schoonhoven, Jan J.
  • Segal, George
  • Severen, Dan van
  • Smith, David
  • Smith, Richard
  • Smith, Tony
  • Stanley, Robert
  • Stella, Frank
  • Sykora, Zdenék

t

  • Tajiri, Shinkichi
  • Takis (Vassilakis, Panayotis)
  • Talman, Paul
  • Thek, Paul
  • Tilson, Joe
  • Tinguely, Jean
  • Trova, Ernest
  • Tucker, William
  • Turnbull, William
  • Tyzack, Michael
  • Tàpies, Antoni
  • Télémaque, Hervé

u

  • Uecker, Günther
  • Ultvedt, Per Olof

v

  • Vasarely, Victor
  • Visser, Carel
  • Voss, Jan

w

  • Warhol, Andy
  • Wesselmann, Tom
  • Westermann, Horace Clifford

Künstlerischer Leiter

Arnold Bode
geboren 1900 in Kassel, gestorben 1977 in Kassel

  • 1919 – 1924
    Studium Malerei und Grafik, Kunstakademie Kassel, Kassel

  • 1922 – 1929
    Kunstausstellungen moderner Kunst in der Orangerie in Kassel

  • 1925
    Gründung der Kasseler Sezession sowie der Künstlergruppe Die Fünf

  • ab 1926
    Freier Maler und Zeichner

  • 1929
    Eintritt in die SPD. Bis 1977 Mitglied der SPD

  • 1930
    Dozent am Städtischen Werklehrer-Seminar, Berlin

  • 1931 – 1933
    Stellvertretender Direktor des Werklehrer-Seminars, Berlin

  • 1933
    Entfernung aus dem Amt durch die Nationalsozialisten. Berufsverbot als Künstler

  • 1934
    Innere Immigration in Kassel

  • 1945
    Amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach Entlassung Rückkehr nach Kassel

  • ab 1945
    Entwicklung von Projektplänen für eine große internationale Kunstausstellung. Gründung der Gesellschaft Abendländischer Kunst des 20. Jahrhunderts

  • 1948
    Neugründung Kasseler Kunstakademie, die 1932 geschlossen worden war

  • 1950 – 1955
    Tätigkeit als Raumgestalter und Möbeldesigner

  • 1955
    Künstlerischer Leiter der ersten documenta in Kassel

  • 1959
    Künstlerischer Leiter der documenta 2, Kassel

  • 1964
    Künstlerischer Leiter der documenta 3, Kassel

  • 1968
    Künstlerischer Leiter der documenta 4, Kassel

Auszeichnungen (Auswahl):

  • 1974
    Verleihung des Großen Verdienstkreuzes der Bundesrepublik Deutschland

  • 2015
    Hessischer Kulturpreis für die Tätigkeit als Künstlerischer Leiter der documenta 1-4 (posthum)

Schwarz-Weiß-Fotografie von Arnold Bode. Er steht in einem Ausstellungsraum, möglicherweise in einem Gespräch oder bei einer Führung.
Arnold Bode (1955)