DOCUMENTA IX

Plakat mit schwarzem Schwan auf weißem Hintergrund, dessen Spiegelbild im unteren Bereich als weißer Schwan auf schwarzem Grund erscheint. Oben mittig steht in feiner Serifenschrift „DOCUMENTA IX“, darüber in grün und schwarz der Text: „13.6. – 20.9. KASSEL 1992“.
Ausstellungsplakat documenta 9 (1992)

Künstlerische Leitung

Jan Hoet

Orte
Museum Fridericianum, documenta Halle, Neue Galerie, Ottoneum, Orangerie, Kasseler Innenstadt, temporäre Pavillons in der Karlsaue
Künstler*innen

195

Besuchende

615.640

Budget

18.645.501 DM

Die documenta 9 gilt als eine der populärsten documenta-Ausstellungen, was nicht zuletzt an ihrem künstlerischen Leiter Jan Hoet liegt. Dem charismatischen Belgier gelang es, seine Begeisterung für die Kunst und für seine documenta medienwirksam zu inszenieren. Und er vermittelte dabei programmatische Ansätze, die auch Besuchern, die nicht zu den ausgewiesenen Kunstkennern zählten, schnell nahezubringen waren: Hoet wollte mit seiner Ausstellung den Menschen und seine sinnliche, wahrnehmende, leidende und von einer zunehmend digital-virtualisierten Welt verdrängte Körperlichkeit in den Mittelpunkt rücken. „Vom Körper zum Körper zu den Körpern“ lautete das poetisch-vielsagende Motto der documenta 9.

Jan Hoet formulierte sein kuratorisches Anliegen so: „In einer Zeit, in der der Mensch mehr denn je mit Gefahren konfrontiert ist wie Aids und multinationalen Kriegen, mit Atomkatastrophen und globalen Klimakatastrophen, in einer Zeit, in der die Bedrohungen immer abstrakter und die Ängste immer diffuser werden, scheint mir nur noch ein Besinnen auf unsere körperlichen Bedingungen eine adäquate Antwort zu sein.“ Diese Antwort wollte Hoet finden, nicht nur in Zusammenarbeit mit seinem Team, bestehend aus Bart De Baere, Pier Luigi Tazzi und Denys Zacharopoulos, sondern nicht zuletzt, und dies war neu, in intensiver Zusammenarbeit mit den Künstlerinnen und Künstlern. Vor allem die Verortung der jeweiligen Kunstwerke und der sich dabei entspinnende Dialog von Standort und Werk wurden in dieser unhierarchischen Zusammenarbeit diskutiert.

Die Künstler waren von Beginn an verantwortlich am Entstehen der Ausstellung beteiligt. Neu an dieser documenta war aber auch, dass erstmals in ihrer Geschichte ihr „Eurozentrismus“ kritisiert wurde. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts war langsam ein breites Bewusstsein dafür entstanden, dass auch in Asien und in der sogenannten „Dritten Welt“ durchaus interessante Kunst geschaffen wird.

Blick in einen langen, gewölbten Flur mit dunklen Wänden und Marmorboden. An den Wänden hängen schwarze Stoffbahnen mit weißen Textzitaten in verschiedenen Sprachen.
Joseph Kosuth, Passagen-Werk (documenta-Flânerie) (1992). Foto: Dieter Schwerdtle
Zwei Fernsehmonitore zeigen das Gesicht derselben Person mit geöffnetem Mund, einmal auf dem Kopf stehend und einmal aufrecht. Ein diagonaler Balken verläuft über beide Bilder.
Bruce Naumann, Anthro / Socio (1991). Foto: Dirk Bleicker

Die neunte documenta sei eine „documenta der Orte, ihre Topographie ist das alles tragende Gerüst“, schrieb Hoet in der Einleitung zum Katalog. Jeder Ort stand aufgrund seiner Atmosphäre für ein spezifisches Thema – das Fridericianum etwa war als „Ort der Geschichte, der Aufklärung und der kulturellen Potenz, als Ort des Dramas“ definiert. Im Zwehrenturm des Fridericianums richtete Hoet ein „kollektives Gedächtnis“ der documenta 9 ein, mit Museumsleihgaben von Joseph Beuys, James Lee Byars, Jacques-Louis David, James Ensor, Paul Gauguin, Alberto Giacometti und Barnett Newman, inszenierte so, ähnlich wie die erste documenta, eine Genealogie – allerdings nicht im Sinne systematischer kunsthistorischer Kategorien; vielmehr standen diese Künstler für Hoet für „Vertreter revolutionärer Werke“.

Fast schon als Leitmotiv für die documenta 9 fungierte Bruce Naumans Video-Installation Anthro/Socio (1992) im Foyer des Museum Fridericianum. Eine Menschenfigur, genauer: die Figur eines kahlen Männerkopfes, drehte sich, auf aufeinanderstehenden Monitoren sechsfach multipliziert, isoliert von ihrer Umwelt hilferufend um sich selbst. „Help me, hurt me, Sociology, feed me, eat me, Anthropology“ ertönte als akustische Endlosschleife. Die von der Männerfigur formulierten Gegensätze „Helfen“ und „Verletzen“, „Füttern“ und „Fressen“ betonten das Gefangensein des Menschen in unauflöslichen existenziellen Widersprüchen.

Im selben Raum hatte der Österreicher Peter Kogler seine Wandtapete Ants (1992) installiert. Die technisch generierten Bilder riesiger Ameisen in schier unendlicher Reproduktion luden den Raum zusätzlich mit einer bedrohlichen Atmosphäre auf. Im Hof hinter dem Fridericianum hatte Ilya Kabakov ein zugängliches Toilettenhaus errichten lassen: Die Toilette (1992) stellte ein Hybrid aus typischer russischer Zweizimmerwohnung und öffentlicher Toilette dar. Das sprichwörtliche „Wohnklo“ war hier Wirklichkeit geworden und thematisierte als skulpturale Installation (a)soziale Lebensverhältnisse im Spannungsfeld von Privatheit und Öffentlichkeit in den „real existierenden sozialistischen Staaten“. 

Der Außenraum als „Ort des Flanierens und der gedanklichen Ausflüge“ kündigte sich schon aus der Ferne an, ragte doch Jonathan Borofskys Man Walking to the Sky (1992) auf dem Friedrichsplatz etwa 15 Meter hoch in den Himmel. „Himmelsstürmer“ tauften die Kasseler diese Männerfigur, die unbeirrt auf einem 25 Meter langen, in einem Neigungswinkel von 63 Grad aufgestellten Stahlrohr nach oben zu gehen scheint. Die Skulptur war damals so populär, dass sie mithilfe einer Sammel- und Spendenaktion von der Stadt angekauft werden konnte – heute steht sie auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof. Ebenfalls in Kassel verblieben Thomas Schüttes Keramik-Skulpturengruppe Die Fremden (1992) – auf dem Vordach des Roten Palais –, Per Kirkebys Raumskulptur (1992) und zwei – allerdings nie offiziell
übergebene – Steinhälften (Untitled (1992)) von Jimmie Durham, die der Künstler zur documenta 13 (2012) erneut ausstellte und dann wieder mitnahm.

Erstmals wurden für die documenta auch eigene Gebäude errichtet, wie die temporären Aue-Pavillons im Park („Ort dionysischer Leichtigkeit“). Die gerade fertiggestellte, am Hang zur Karlsaue gelegene documenta-Halle beherbergte als „Ort der Demokratie“ unter anderem Installationen von Absalon, Jean-Pierre Bertrand, Cildo Meireles, Matt Mullican und Panamarenko. Eine Atmosphäre höchster Intensität schuf Rebecca Horn mit ihrer Installation Der Mond, das Kind, der anarchistische Fluß (1992) in der ehemaligen Gerhart-Hauptmann-Schule. Aufsehen erregte auch das Begleitprogramm, hatte Jan Hoet doch neben Jazz und Baseball auch Boxveranstaltungen in dieses Kunstereignis integriert. Hoet begründete dies damit, dass das Boxen eine körperliche Handlung sei, die dem Leben nahestehe, „weil sie aus dem Leben selbst hervorgegangen“ sei. 

Trotz oder gerade wegen ihrer Popularität musste sich die documenta 9 auch heftiger Kritik stellen: Man warf Hoet seine zu Beginn postulierte Konzeptlosigkeit vor, die Ausstellung sei durch ihr „Nebeneinander am Ende der Stile“ konventionell und beliebig, ein „Unterhaltungsbetrieb“. Den meisten der 615.640 Besucher blieb sie jedoch als sinnliches Erlebnis in Erinnerung. 

 

Im Vordergrund entspannen zahlreiche Menschen auf einer Rasenfläche. Im Hintergrund erhebt sich ein schräg aufragender Metallmast mit einer Figur im Stehen auf der Spitze.
Jonathan Borofsky, Man Walking to the Sky (1991-92). Foto: Dirk Bleicker

Künstler*innen

a

  • Abramović, Marina
  • Absalon
  • Artschwager, Richard

b

  • Bacon, Francis
  • Bagnoli, Marco
  • Baikas, Nicos
  • Balka, Miroslaw
  • Barney, Matthew
  • Barr, Jerry
  • Baumgarten, Lothar
  • Bertrand, Jean-Pierre
  • Beuys, Joseph
  • Biberstein, Michael
  • Bijl, Guillaume
  • Birnbaum, Dara
  • Borofsky, Jonathan
  • Bourgeois, Louise
  • Brandl, Herbert
  • Brey, Ricardo
  • Brown, Tony
  • Burki, Marie José
  • Bustamante, Jean-Marc
  • Buthe, Michael
  • Byars, James Lee

c

  • Caldas, Waltercio
  • Calzolari, Pier Paolo
  • Caramelle, Ernst
  • Carroll, Lawrence
  • Cemin, Saint Clair
  • Ciecierski, Tomasz
  • Clark, Tony
  • Coleman, James
  • Conrad, Tony
  • Corillon, Patrick

d

  • Damian
  • Daniëls, René
  • David, Jacques Louis
  • Deacon, Richard
  • De Cordier, Thierry
  • Defraoui, Silvie & Chérif
  • De Keyser, Raoul
  • Delvoye, Wim
  • Dimitrijevic, Braco
  • Dittborn, Eugenio
  • Dorner, Helmut
  • Douglas, Stan
  • Dumas, Marlene
  • Durham, Jimmie

e

  • Edoga, Mo
  • Ensor, James

f

  • Fabre, Jan
  • Fabro, Luciano
  • Fainarú, Belu-Simion
  • Fend, Peter
  • Finn-Kelcey, Rose
  • Flatz
  • Fortuyn/O'Brien
  • Francois, Michel
  • Frandsen, Erik A.
  • Frenkel, Vera
  • Funakoshi, Katsura
  • Förg, Günther

g

  • Gauguin, Paul
  • Genzken, Isa
  • Gerber, Gaylen
  • Giacometti, Alberto
  • Gober, Robert
  • Graham, Dan
  • Graham, Rodney
  • Grauerholz, Angela
  • Gross, Michael

h

  • Hadjimichalis, George
  • Hammons, David
  • Herold, Georg
  • Hill, Gary
  • Hopkins, Peter
  • Horn, Rebecca
  • Horn, Roni

j

  • James, Geoffrey
  • Jenssen, Olav Christopher
  • Johnson, Tim

k

  • Kabakov, Il'ja
  • Kapoor, Anish
  • Katase, Kazuo
  • Kawamata, Tadashi
  • Kelley, Mike
  • Kelly, Ellsworth
  • Khakhar, Bhupen
  • Kirkeby, Per
  • Klingelhöller, Harald
  • Kocherscheidt, Kurt
  • Kogler, Peter
  • Kokolia, Vladimir
  • Kosuth, Joseph
  • Kruk, Mariusz
  • Kuitca, Guillermo

l

  • Lafont, Suzanne
  • Lange, Gustav
  • Lasker, Jonathan
  • Leirner, Jac
  • Leonard, Zoe
  • Leroy, Eugène
  • Lewandowsky, Via
  • Lohaus, Bernd
  • Lukacs, Attila Richard
  • Lutes, Jim
  • Lüscher, Ingeborg

m

  • Maeyer, Marcel
  • Marden, Brice
  • Meireles, Cildo
  • Meister, Ulrich
  • Merrick, Thom
  • Merz, Gerhard
  • Merz, Mario
  • Merz, Marisa
  • Meuser
  • Meyer, Jürgen
  • Moro, Liliana
  • Mucha, Reinhard
  • Mullican, Matt
  • Muñoz, Juan

n

  • Nagasawa, Hidetoshi
  • Nauman, Bruce
  • Neuhaus, Max
  • Nevalainen, Pekka
  • Nicosia, Nic
  • Ninio, Moshe
  • Niva, Jussi
  • Noland, Cady
  • Näher, Christa

o

  • Ocampo, Manuel
  • Othoniel, Jean-Michel
  • Oursler, Tony

p

  • Panamarenko
  • Paolini, Giulio
  • Penck, A. R.
  • Pistoletto, Michelangelo
  • Pitz, Hermann
  • Prina, Stephen
  • Prince, Richard
  • Puryear, Martin

r

  • Rabinowitch, Royden
  • Racine, Rober
  • Rantzer, Philip
  • Ray, Charles
  • Raysse, Martial
  • readymades belong to everyone
  • Reis, Pedro Cabrita
  • Resende, José
  • Richter, Gerhard
  • Rollof, Ulf
  • Rothenberg, Erika
  • Rothenberg, Susan
  • Ruff, Thomas
  • Runge, Stephan
  • Ruscha, Edward
  • Ruthenbeck, Reiner
  • Rückriem, Ulrich

s

  • Salvadori, Remo
  • Scanlan, Joe
  • Schaerf, Eran
  • Schiess, Adrian
  • Schweizer, Helmut
  • Schütte, Thomas
  • Serebrjakova, Marija
  • Simoni, Mariella
  • Solano, Susana
  • Sow, Ousmane
  • Spalletti, Ettore
  • Steinbach, Haim
  • Steir, Pat
  • Strack, Wolfgang
  • Struth, Thomas
  • Sugár, János

t

  • Takeoka, Yuji
  • Therrien, Robert
  • Thorne, David & Katya Sander & Ashley Hunt & Sharon Hayes & Andrea Geyer
  • Thursz, Frederic Matys
  • Toroni, Niele
  • Totsikas, Thanassis
  • Trinci, Addo Lodovico
  • Tusek, Mitja
  • Tuymans, Luc

u

  • Ulman, Mîkhah
  • Uslé, Juan

v

  • Viola, Bill
  • Visch, Henk

w

  • Welling, James
  • West, Franz
  • Whiteread, Rachel
  • Wool, Christopher

y

  • Yook, Keun Byung

z

  • Zobernig, Heimo
  • Zorio, Gilberto
  • Zvezdochetov, Konstantin

Künstlerischer Leiter

Jan Hoet
geboren 1936 in Löwen, gestorben 2014 in Gent

  • Studium der Kunstgeschichte und Archäologie, Sint-Lievenscollege, Gent

  • 1961–1975
    Dozent an der Kunstakademie, Gent

  • 1975–1999
    Direktor des Museum voor Hedendaagse Kunst, Gent

  • 1988-1992
    Künstlerischer Leiter der documenta 9, Kassel

  • 1999-2003
    Kurator am S.M.A.K., Gent

  • 2003–2008
    Gründungsdirektor des MARTa Herford, Herford

  • 1976
    Panamarenko. Museum voor Hedendaagse Kunst, Gent

  • 1977
    Marcel Broodthaers, Museum voor Hedendaagse Kunst, Gent

  • 1977
    Joseph Beuys, Museum voor Hedendaagse Kunst, Gent

  • 1986
    Chambres d’amis, Museum voor Hedendaagse Kunst, Gent

  • 1989
    Open Mind/Closed Circuits, S.M.A.K., Gent

  • 1991
    Fabre, Watari-Um Museum, Tokio

  • 1992
    documenta 9, Kassel

  • 2002
    Bjarne Melgaard: Black Low, MARTa Herford, Herford

  • 2005
    James Ensor, MARTa Herford, Herford

  • 2006
    Anton Henning, MARTa Herford, Herford

  • 2007
    Erik Schmidt: Hunting Grounds, MARTa Herford, Herford

  • 2008
    Max Bill: ohne Anfang ohne Ende, MARTa Herford, Herford

Auszeichnungen (Auswahl):

  • 2009
    Ehrendoktor der Universität Gent

  • 2009
    Verdienstkreuz 1. Klasse der Bundesrepublik Deutschland

  • 2011
    Preis der Flämischen Gemeinschaft für allgemeine kulturelle Verdienste

  • 2015
    Hessischer Kulturpreis für die Tätigkeit als Künstlerischer Leiter der documenta 9 (posthum)

Person in Anzug und Schal steht mit Zigarette in der Hand in einem Büro vor einer Tafel mit Notizen und Plakaten. Im Raum stehen mehrere Schreibtische mit Aktenordnern, Papieren und Büromaterialien.
Jan Hoet (1992). Foto: Dirk Bleicker