Künstlerische Leitung
Harald Szeemann (Generalsekretär)
Orte
Museum Fridericianum, Friedrichsplatz, Neue Galerie
Künstler*innen
222
Besucher*innen
220.000
Budget
3,480,000 DM
Ben Vautier, Kunst ist überflüssig (1972) © Ben Vautier/VG Bild-Kunst
Foto: Manfred Vollmer
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Nachdem sich mit der 4. documenta bereits ein struktureller Umbruch angebahnt hatte, wurde 1972 mit Harald Szeemann erstmalig ein allein verantwortlicher künstlerischer Leiter eingeführt – die Ära Bode ging damit zu Ende. Mit dem Titel „Befragung der Realität – Bildwelten heute“ gab Szeemann der documenta 5 erstmals eine programmatische Richtung. Das ursprüngliche, 1970 entwickelte Konzept eines „Hundert-Tage-Ereignisses“, das anstelle des „Museums der 100 Tage“ rein aktionistisch-performativ angelegt war, wurde wieder verworfen, wohl auch aufgrund von Erfahrungen mit früheren Ausstellungen wie zum Beispiel der Schau Happening und Fluxus von 1970, die unter massiven Bürgerprotesten beendet wurde. Dennoch überraschte es zunächst, dass Szeemann sich mit seiner Ausstellung „von der Scheinfreiheit des Museums auf der Straße“ wieder ganz in die hehren Hallen der Kunst zurückzog und statt des geplanten Aktionismus ein intellektuell geprägtes Konzept vorlegte – ursprünglich in tabellarischer Form – das wie folgt unterschied: „1. Die Wirklichkeit der Abbildung, 2. Die Realität des Abgebildeten und 3. Die Identität oder Nichtidentität von Abbildung und Abgebildetem.“ Die theoretische Grundlegung hierfür lieferte Bazon Brock in einem wortgewaltigen „Audiovisuellen Vorwort“ auf zwölf Projektionsflächen, begleitet von einem eineinhalbstündigen Text. Im Museum Fridericianum und in der Neuen (ehemals Alten) Galerie entwarf Szeemann mit seinem Team (Jean-Christophe Ammann und Arnold Bode in der Arbeitsgruppe sowie als freie Mitarbeiter neben Brock unter anderem Ingolf Bauer, Johannes Cladders, Klaus Honnef, Kasper König und Eberhard Roters) ein Archipel verschiedener Bildwelten, die in dem Nebeneinander von „High“ und „Low“ eine individuelle Interpretation dessen, was Kunst sei und was nicht, vom Betrachter einforderten.
Haus-Rucker-Co, Oase Nr.7 / Air-Unit © Gruppe Haus-Rucker Co/VG Bild-Kunst
Duane Hanson, Seated Artist (1972) © Duane Hanson/VG Bild-Kunst
Foto: Brigitte Hellgoth
Claes Oldenburg, *Maus Museum * (1972)
Foto: Balthasar Burkhard
Charles Wilp, Afri-Cola-Werbung: Intelligente Knie © Charles Wilp/VG Bild-Kunst
Chuck Close, John (1971/72)
Paul Thek, ARK, PYRAMID (1971)
Foto: Brigitte Hellgoth
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Quasi antithetisch zu den ersten, weitgehend der Abstraktion verpflichteten documenta-Ausstellungen hielt nun die – wie auch immer geartete – „Realität“ Einzug: in der Malerei mit fotorealistischen Positionen (Robert Bechtle, Chuck Close, Richard Estes, Franz Gertsch), in der Skulptur mit lebensnahen Menschendarstellungen und Environments (John De Andrea, Duane Hanson, Edward Kienholz, Paul Thek). Wobei natürlich Kienholz’ Five Car Stud (1969–72), eine alptraumhafte Darstellung rassistischer Lynchjustiz in den USA, einen völlig anderen Realitätsbegriff vertrat als etwa Paul Theks raumfüllende Installation Arc, Pyramid (1971), ein spiritueller Zyklus von Leben und Tod, der Szeemanns Begriff der „individuellen Mythologien“ maßgeblich mitprägte. Diesen „individuellen Mythologien“ wurden sogenannte „parallele Bildwelten“ gegenübergestellt: Bildwelten der Frömmigkeit, politische Propaganda, Trivialrealismus (Kitsch), Werbung und Warenästhetik und die „Bildnerei der Geisteskranken“ – Alltagstrivialität und persönliche Obsessionen existierten gleichwertig nebeneinander. Hinzu kamen nach dem Vorbild von Marcel Duchamps Boîte-en-valise (1935–41) eine Abteilung mit Künstlermuseen wie Claes Oldenburgs Maus Museum (1972) oder Marcel Broodthaers’ Musée d’Art Moderne, Département des Aigles, Section d’Art Moderne (1972).
Edward Kienholz, *Five Car Stud * (1971)
Foto: Manfred Vollmer
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Auch Concept Art und Happening prägten das Bild der documenta 5, und wenn auch das Ereignis-Konzept in seiner radikalen Form nicht realisiert wurde, so gab es doch eine Reihe von Kunstwerken, die über die gesamten 100 Tage performativ aktiviert wurden: Joseph Beuys mit seinem Büro für direkte Demokratie durch Volksabstimmung, Gilbert & George oder Ben Vautier, die die documenta 5 als lebendige Skulpturen bewohnten, der Performanceraum von Vito Acconci im Fridericianum oder Anatols Werkstatt Arbeitszeit (1970) im Hof. James Lee Byars führte auf dem Dach des Fridericianums seine Performance Calling German Names auf, Jannis Kounellis schuf eine Szenerie mit einem Violinisten und einer Balletttänzerin, und auch die Wiener Aktionisten um Hermann Nitsch waren vertreten. Wesentlich nüchterner Hans Haacke: Er führte zusammen mit einem Rechenzentrum eine soziologische Befragung zum Profil der documenta 5-Besucher durch. Und vor dem Fridericianum wehte KP Brehmers Fahne Korrektur der Nationalfarben, gemessen an der Vermögensverteilung (1972).
Vito Acconci, Cross-Fronts (1972)
John De Andrea, Arden Anderson and Nora Murphy (1972)
Foto: Paolo Mussat Sartor
James Lee Byars, Calling German Names (1972)
Foto: Krings
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Joseph Beuys, Boxkampf für direkte Demokratie (1972) © Joseph Beuys/VG Bild-Kunst
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