Künstlerische Leitung
Manfred Schneckenburger
Orte
Museum Fridericianum, Orangerie, Neue Galerie, Karlsaue
Künstler*innen
623
Besucher*innen
355.000
Budget
4,800,000 DM
Museum Fridericianum (1977)
Foto: Manfred Vollmer
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Die zeitliche Abfolge der documenta-Ausstellungen bedeutet nicht, dass die einzelnen Ausstellungen zwangsläufig aufeinander aufbauen, jede documenta „erfindet sich neu“ – und dennoch ist jede auch eine Reaktion auf die vorangegangene. Die von Manfred Schneckenburger kuratierte documenta 6 entwickelte in gewissem Sinne weiter, was die documenta 4 und 5 vorbereitet hatten, nämlich die Ausweitung des künstlerischen Feldes. Letztere beide Ausstellungen hatten Kunstrichtungen wie die Pop Art, den Fotorealismus und Fluxus erstmals in Deutschland einer breiten Öffentlichkeit vorgestellt, die documenta 6 dann hat dieses neu gewonnene ästhetische Terrain mit seinen künstlerischen Reflexionen des kapitalistischen Alltags nicht nur gesichert, sie vergrößerte es noch. So wurden 1977 erstmals auf einer documenta Künstlerbücher und historische Fotografien aus 140 Jahren Fotogeschichte ausgestellt, auch das Autorenkino feierte Premiere. Die Abteilung „Utopisches Design“ dachte visionär über die Probleme und Entwicklungschancen des Kraftfahrzeugs nach, und noch nie zuvor war so viel Videokunst auf einer documenta zu sehen gewesen. Selbstverständlich war gerade Letzteres dem Konzept der Ausstellung geschuldet, ging es ihr doch um „eine Idee der medienkritischen 70er“ Jahre: An die Stelle der (technikgläubigen) Begeisterung für die Massenmedien, die noch in den 1960er Jahren vorherrschend gewesen war – wenn Schneckenburger von einer „medieneuphorischen“ Zeit sprach, schloss dies auch die künstlerischen Medien mit ein –, trat in der Medienwelt der 70er Jahre eine kritische Grundhaltung auf den Plan, die die zunehmende Macht der Medien und ihre realitätsverzerrenden Momente in den Fokus rückte. Wie die Welt sich immer mehr nach den Medien richtete und eben nicht mehr umgekehrt, diese neue Entwicklung war damals nicht zuletzt durch die Strategie der terroristischen Rote Armee Fraktion deutlich geworden, die besonders das bundesdeutsche Fernsehen für eigene Propagandazwecke nutzen konnte.
Doch die documenta 6 begnügte sich nicht mit einer weitreichenden Medienkritik, sie konzentrierte sich auch auf die Untersuchung der medialen Qualitäten von Kunst, auf die „Selbstreflexion der künstlerischen Medien“, wie Schneckenburger in seinem Katalogvorwort schreibt. So war Malerei über Malerei ebenso zu sehen wie Film, der seine eigene visuelle Grammatik offenlegte, und Skulpturen, die ihre Möglichkeiten im öffentlichen Raum bedachten. Die daraus erwachsende Selbstreferenzialität vieler der ausgestellten Exponate lotete die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten von Kunst in der postmodernen Eventgesellschaft aus. Und sie betonte die aus den jeweiligen medialen Strukturen sich ergebenden formalen Eigentümlichkeiten der Künste, statt wie in den vorangegangenen documenta-Ausstellungen mit mehr oder weniger verstörender Inhaltlichkeit sich behaupten zu wollen. Genau hier lag dann die Differenz zur documenta 4 und 5.
Ulrike Rosenbach, Herakles - Herkules - King Kong. Das Klischee »Mann« (1977) © Ulrike Rosenbach/VG Bild-Kunst
Foto: Dieter Schwerdtle
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Von den insgesamt 2700 gezeigten Kunstwerken können hier nur wenige exemplarisch vorgestellt werden. Die Präsentation von Malerei begann mit einem hausgemachten Skandal: Gerhard Richter, Georg Baselitz, A.R. Penck und Markus Lüpertz hängten ihre Arbeiten einen Tag vor der Eröffnung wieder ab, sie waren mit der Präsentation Schneckenburgers nicht einverstanden, die sie in die Nähe „offizieller“ DDR-Künstler brachte, die auf dieser documenta zum ersten Mal vertreten waren. Werner Tübke, Wolfgang Mattheuer, Willi Sitte und Bernhard Heisig zeigten Bilder, deren Ästhetiken auf unterschiedliche Weise dem Realismus verpflichtet waren. Und die von den Optionen von Kunst im real existierenden Sozialismus erzählten. Besagte „selbstreflexive“ Malerei war etwa mit Gotthard Graubners Farb-Raum-Körper, Palermos reduktionistischen Bildern oder den abstraktexpressiven Gemälden von Willem de Kooning vertreten.
Manfred Schneckenburger (1977) © Galerie m
Joseph Beuys, Honigpumpe am Arbeitsplatz (1974-1977) © Joseph Beuys/VG Bild-Kunst
Foto: Eberhard Mons
Freie internationale Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung e.V. (1977)
Foto: Dieter Schwerdtle
Stephen Antonakos, Incomplete Neon-Square (1977)
Foto: Andreas Knierim
Hans-Peter Reuter, documenta-Raumprojekt (1977)
Foto: Werner Lengemann
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Filmkunst von Regisseuren wie Rainer Werner Fassbinder, Martin Scorsese und Stanley Kubrick wurde im Kasseler Royal-Kino gezeigt; schon die Wahl dieses Ortes bezeugt ein demonstratives Bekenntnis zu einer Öffnung der „hehren“ Kunst hin zu populären Formen. Gleiches gilt für die Ausstrahlung diverser Künstlervideos im Dritten Deutschen Fernsehprogramm. Der Experimentalfilm dagegen, vertreten unter anderem durch Michael Snow und Wilhelm und Birgit Hein, lief im Dachgeschoss des Fridericianums, also im längst klassisch gewordenen White Cube der documenta. Video-Installationen etwa von Bill Viola, Nam June Paik und Bruce Nauman fragten, wie die Experimentalfilme auch, nach den strukturellen Gesetzmäßigkeiten des bewegten Bildes. Zudem stellte sich gerade bei Film und Video ein konstruktiver Dialog zwischen High und Low Art ein, damals eben noch gültige Hierarchien verloren so endgültig ihre Gültigkeit. Joseph Beuys hob mit seiner inzwischen legendären Freien Internationalen Hochschule für Kreativität und interdisziplinäre Forschung (1973–88), die während der hundert Tage ihre politisch-pädagogische Mission zu erfüllen versuchte und in deren Zentrum die Honigpumpe am Arbeitsplatz in der Rotunde des Fridericianums symbolisch arbeitete, andere Grenzziehungen auf, nämlich die von politischem Aktivismus und performativer Kunst. Bis heute vor Ort blieben das Laser-Environment (1977) von Horst A. Baumann und zwei skulpturale Arbeiten im Außenraum: der überdimensionierte doppelte Bilderrahmen Rahmenbau (1977) von Haus-Rucker-Co über der Karlsaue und Walter De Marias unterirdischer Vertical Earth Kilometer (1977). Die aufwendige Einbringung der 1000 Meter Messing in die Erde sorgte seinerzeit für einen Skandal – heute gehört diese wichtige Arbeit der Land Art und der Concept Art zu den Ikonen der documenta.
Haus-Rucker-Co, Rahmenbau (1977)
Horst H. Baumann, Laser-Environment (1977)
Walter De Maria, The Vertical Earth Kilometer (1977);
Ferdinand Kriwet, Elektronische Lichtzeichnung zum Thema documenta-Kritik (1977)
Reiner Ruthenbeck, Kreuz (1977) © Reiner Ruthenbeck/VG Bild-Kunst
Foto: Werner Lengemann
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