Künstlerische Leitung
Okwui Enwezor
Orte
Museum Fridericianum, documenta-Halle, Kulturbahnhof / Balikino, Binding-Brauerei, Orangerie, Karlsaue, Kasseler Innenstadt / Nordstadt
Künstler*innen
117
Besucher*innen
650.924
Budget
18.075.420 Euro
Website
documenta11.de
Mit dem in Nigeria geborenen Okwui Enwezor wurde erstmals ein Nicht-Europäer documenta-Leiter – die erste documenta im neuen Millennium gilt als die erste wirklich globale, post-koloniale documenta. „Die documenta 11 beruht auf fünf Plattformen, die versuchen, den gegenwärtigen Ort der Kultur und ihre Schnittstellen mit anderen komplexen globalen Wissenssystemen zu beschreiben.“ Die Ausstellung in Kassel war somit lediglich die fünfte und letzte Plattform in dem Konzept von Okwui Enwezor und seinem Kuratorenteam – bestehend aus Carlos Basualdo, Ute Meta Bauer, Susanne Ghez, Sarat Maharaj, Mark Nash und Octavio Zaya. Ein Jahr vor der offiziellen Eröffnung fanden transdisziplinäre „Plattformen“ zu verschiedenen Themen auf vier Kontinenten statt: „Demokratie als unvollendeter Prozess (Wien, 15. 3.–20. 4. 2001; Berlin, 9.–30. 10. 2001), „Experiment mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die Prozesse der Wahrheitsfindung und Versöhnung“ (Neu Delhi, 7.–21. 5. 2001), „Créolité und Kreolisierung“ (St. Lucia, 13.–15. 1. 2002)und „Unter Belagerung: Vier afrikanische Städte. Freetown, Johannesburg, Kinshasa, Lagos“ (Lagos, 16.–20. 3. 2002). Viele der dann in der Ausstellung gezeigten künstlerischen Arbeiten griffen diese Themen und andere globale Problematiken in verschiedenster Weise wieder auf. Gemäß der Prämisse „Kunst ist Wissensproduktion“ hatten viele Projekte dokumentarischen Charakter – die Befürchtung einer allzu „theorielastigen“ Schau (eine voreingenommene Einschätzung, die sich schon bei der documenta 10 als nicht zutreffend erwiesen hatte) bewahrheitete sich jedoch nicht. Die Leistung der documenta 11 bestand, wie Wolfgang Lenk in seinem Katalogessay schreibt, vor allem darin, „die unausgesprochenen Aufmerksamkeitshierarchien des westlichen Ausstellungswesens“ in Frage zu stellen, dem „exotisierenden Blick des Westens auf ‚das Fremde‘ seine Legitimität abzusprechen und die Wahrnehmung mit jenen künstlerischen Aktivitäten zu konfrontieren, die unsere Projektion durchkreuzen. […] Die ‚Fremden‘ waren die Objekte unseres Blicks – nun schauen sie zurück“. Die Blickänderung, die Catherine David 1997 vorbereitet hatte, wurde nun endgültig vollzogen.
Craigie Horsfield, El Hierro Conversation (2002)
Foto: Ryszard Kasiewicz © documenta Archiv
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Während in der documenta-Halle vor allem Künstlerkollektive und Archiv-basierte Projekte Raum fanden (Fareed Armalys und Rashid Masharawis Visualisierung der palästinensischen Geschichte From/To, 1999, die Gruppe Huit Facettes aus dem
Senegal, Le Groupe Amos aus der Demokratischen Republik Kongo, das Raqs Media Collective aus Delhi und Meschac Gaba mit der Library seines Museum of Contemporary African Art (2002)), waren die Kunstwerke im Fridericianum und in der als Ausstellungsort neu hinzugekommenen Binding-Brauerei großzügig inszeniert – fast jedes Kunstwerk hatte seinen eigenen Raum. Vorherrschend waren Videoprojektionen (Steve McQueen, Yang Fudong) und raumgreifende Installationen, etwa Georges Adéagbos vor Ort entstandene Objektassemblage L’explorateur et les explorateurs devant l’histoire d’exploration ...! Le théatre du monde (2002), Chohreh Feyzdjous Boutique Product of Chohreh Feyzdjou (1973–93) oder die Räume von Mona Hatoum, Alfredo Jaar und Dieter Roth. Besonders beklemmend wirkte die Gegenüberstellung der von schwerem Blei überzogenen zerstörten Stühle von Doris Salcedo mit den auf Leinwandfetzen gemalten Folterszenen von Leon Golub. Im Raum daneben war Zarina Bhimjis bildgewaltiges Video Out of the Blue (2002) zu sehen, das in langsamen Kamerafahrten verlassene Militärbaracken, Arrestzellen und Gefängnisräume in einer tropischen Landschaft zeigte und dazu, im Gegensatz zu den Bildern der Verlassenheit, eine anschwellende Geräuschkulisse aus erregten Stimmen und Schüssen erklingen ließ – eine audiovisuelle Verarbeitung der eigenen Erinnerung. Als Neunjährige war Bhimji mit ihrer Familie und tausenden anderen asiatischen Einwanderern gewaltsam aus Uganda vertrieben worden. Diese drei im Erdgeschoss des Fridericianums prominent gezeigten Arbeiten riefen eindrücklich Erfahrungen von staatlicher Gewalt in Erinnerung, was sich mit Tania Brugueras Performance-Installation Untitled (2002) in der Binding-Brauerei fortsetzen sollte. Hier waren Besucher abwechselnd totaler Dunkelheit oder gleißendem Licht ausgesetzt und vernahmen so, ihrer Fähigkeit zu sehen beraubt, lediglich Geräusche wie das militärische Stampfen von Stiefeln oder das Zusammensetzen eines Gewehrs. Vor dem Fridericianum ließ Cildo Meireles mobile Eisverkäufer Wassereisstangen verteilen, die jedoch keinen Geschmack hatten – sie bestanden schlicht aus gefrorenem Wasser. Der Titel der Arbeit, Disappearing Element / Disappeared Element (Imminent Past) (2002) gemahnte an die zunehmende Realität der Wasserknappheit in vielen Teilen der Welt.
Binding Brauerei (2002)
Foto: Werner Maschmann
Jeff Wall, After Ralph Ellison, Invisible Man, the Preface (2002)
Foto: Ryszard Kasiewicz © documenta Archiv
On Kawara, One Million Years (2001)
Foto: Ryszard Kasiewicz © documenta Archiv
Park Fiction, Park Fiction Archive (2002)
Foto: Ryszard Kasiewicz
Shirin Neshat, Tooba (2002)
Foto: Ryszard Kasiewicz
Yinka Shonibare, Gallantery and Criminal Conversation (2002)
Andreas Siekmann, Aus: Gesellschaft mit beschränkter Haftung (1996-2001)
Foto: Ryszard Kasiewicz © documenta Archiv
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Auch die im Auepark installierten Arbeiten verwiesen weit über ihre skulpturale Anmutung hinaus auf komplexe Zusammenhänge – etwa Dominique Gonzalez-Foersters „Skulpturenpark“ aus Elementen wie einer Telefonzelle aus Brasilien, einem Rosenbusch aus Le Corbusiers Rosengarten im indischen Chandigarh und einem Lava-Stein aus Mexiko, die ein assoziatives Referenzsystem kultureller Symbole bildeten, oder Renée Greens Freiluftpavillon Standardized Octogonal Units for Imagined and Existing Systems (2002) aus acht Einheiten mit audiovisuellem Material zu scheinbar disparaten Themen wie Alphabet, Afrika, Farbe, Insel, Lebensmittel, Arbeit, Frau, Mann, Geschlecht und anderen.
Und tief in Kassels als sozialer Brennpunkt geltender Nordstadt hatte inmitten einer Sozialbausiedlung Thomas Hirschhorn sein Bataille Monument (2002) errichtet. Das in Zusammenarbeit mit lokal ansässigen Jugendlichen aus billigem Baumaterial errichtete Archiv über den Denker der freien Verausgabung und Kritiker der Nützlichkeit stand den Anwohnern zur Nutzung offen – ein Experiment zwischen Erfolg und Scheitern, das mit seinen verschiedenen Problematiken den noch immer schwierigen Dialog zwischen zeitgenössischer Kunst und der sogenannten „sozialen Unterschicht“ offenlegte.
Thomas Hirschhorn, Bataille Monument (2002) © Thomas Hirschhorn/VG Bild-Kunst
Foto: Ryszard Kasiewicz
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